Stand: 04.09.2021 13:13 Uhr

Nachhaltig spielerisch verbessern und in jedem Spiel drei Punkte einfahren. Hansi Flicks Aufgabe als Bundestrainer ist ein Balanceakt zwischen Zukunftsperspektive und gegenwärtigen Erfolgen. Das macht personelle Veränderungen riskant.

Von Robin Tillenburg

Dass die Aufgabe, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nach mehreren Jahren spielerischer Blutarmut und mäßigem sportlichen Erfolg wieder beiderseits in die richtige Spur zu bringen, nicht mit Handauflegen funktionieren würde, war Hansi Flick klar. Es dürfte jedem im Umfeld des DFB-Teams klar gewesen sein.

Keine „Wunderheilung“ über Nacht

Aber Menschen wissen auch, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht im Lotto gewinnen können – und dennoch machen über sieben Millionen Deutsche regelmäßig ihre sieben Kreuze. Und sie schwang im Vorlauf des ersten Länderspiels unter Hans-Dieter Flick dann doch ein bisschen mit – sowohl bei Beteiligten als auch bei den Medienschaffenden und in ganz „Fußball-Deutschland“ – die irrationale Hoffnung, dass sich alles doch sofort wieder in Glanz und Gloria verwandeln würde, wenn der „Sextuple-Sieger“ Flick die Zügel in die Hand nehmen würde.

Daraus – und aus dem erhofften befreienden Kantersieg gegen Liechtenstein – wurde nichts. Und schon nach wenigen Minuten war dann auch für die optimistischsten Zuschauer zu sehen, dass auch Flick wohl viel Zeit und harte Arbeit brauchen wird, um den Turnaround zu schaffen. Trotz der vielen ohne Frage talentierten Spieler – aus der Startelf spielen bis auf Bernd Leno alle bei Champions-League-Klubs – sah das Geschehen auf dem Rasen oft genauso statisch und uninspiriert aus wie zuletzt meist unter Joachim Löw. „Nach drei Trainingseinheiten“ könne er „der Mannschaft keinen Vorwurf machen“, dass noch nicht alles funktioniere, sagte Flick. Das ist wahr – trotzdem hätte es gegen die Nummer 189 der Weltrangliste mehr sein dürfen. Mehr sein müssen.

Eigentlich nur noch „Pflichtsiege“

Weil der nächste Gegner Armenien (Sonntag, 05.09.2021, 20.45 Uhr) mit bisher drei Siegen und einem Remis in der auf dem Papier eigentlich leichten WM-Qualifikationsgruppe J die Tabellenführung inne hat, ist davon auszugehen, dass die Aufgabe gegen die Elf um Henrik Mkhitaryan schwieriger wird, als gegen Liechtenstein, das zwar tapfer verteidigte, aber kaum einmal die Mittellinie überquerte. Auf dem Papier ist aber auch das eine Aufgabe, die für das hochveranlagte DFB-Personal in die Kategorie „Pflichtsieg“ fallen müsste.

Das weiß auch der neue Bundestrainer – Flick wird deshalb wohl seine „A-Elf“ aufbieten. Also mit Manuel Neuer, Leon Goretzka und Serge Gnabry spielen, wahrscheinlich auch mit Antonio Rüdiger. Was in der Wahrnehmung gerne auch mal vergessen wird: Das sind die gleichen Spieler, die unter Löw zuletzt in Schlüsselrollen an den wenig glanzvollen Auftritten beteiligt waren.

Wann rücken die Youngster rein?

Auch wenn Flick mit David Raum, Nico Schlotterbeck und Karim Adeyemi gleich drei Neulinge in den Kader berief, wäre die Kritik groß, würde er seine Startelf komplett umkrempeln und diverse erprobte Champions-League-Spieler für Youngster auf die Bank verbannen und die Leistung bliebe aus. Es würde als Aktionismus abgetan – wohl zurecht.

Trotzdem machten eben jene erprobte Champions-League-Spieler nicht gerade Werbung für eine Startelf-Garantie. Sie boten eher Argumente dafür, dass Flick ihnen doch schneller als gedacht auch mal junge Talente wie den gegen Liechtenstein zumindest phasenweise Esprit versprühenden Jamal Musiala oder den pfeilschnellen Adeyemi für die Offensive vorziehen sollte.

Gleiche Spieler – gleiche Leistung

Florian Wirtz Bild: Oryk HAIST/SVEN SIMON

Gegen Armenien wird das von Beginn an wohl nicht passieren, dafür ist das Spiel zu wichtig. Eine Niederlage würde bedeuten, dass Platz eins in der Gruppe – und nur der bringt die direkte Qualifikation – nicht mehr aus eigener Kraft erreichbar wäre. Ein Sieg wiederum würde die DFB-Elf auf Platz eins hieven. Aber es ist trotzdem wahrscheinlich, dass der Bundestrainer schon konkrete Einsatz-Ideen für die Nachwuchskräfte im Kopf hat, zu denen ja auch Florian Wirtz gehört.

Es ist nicht bekannt, ob Flick die „Wahnsinns-Definition“, kennt, die man Albert Einstein zuschreibt. Aber egal ob es nun der berühmte Physiker war, der sie formuliert hat, oder nicht – sie passt hier ganz gut. Sie lautet: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Wer ernsthaft gedacht hat, dass die nahezu exakt gleichen Spieler wenige Wochen und drei Trainingseinheiten später mit dem ehemaligen Co-Trainer ihres alten Übungsleiters plötzlich einen völlig anderen, schöneren und erfolgreicheren Fußball spielen, der hat den Lottogewinn auch fest im Finanzplan verankert.

Flick braucht ein bisschen Zeit für eine faire Bewertung seiner Leistung als Bundestrainer – auch wenn die Mannschaft natürlich aufgrund der Niederlage gegen Nordmazedonien auf dem Weg zu neuer Stärke zum Siegen verdammt ist. Aber wenn das DFB-Team nicht zeitnah eine spielerische Weiterentwicklung zeigt, muss es auch beim Spielerpersonal personelle Veränderungen geben, selbst wenn das konstant knappe Siege produzieren sollte. Flick, der bei Amtsantritt betonte, dass bei ihm nur nach Leistung nominiert wird, wird das auch wissen.

Quelle: Tagesschau