75 Jahre WELT: Kritischer Blick einer Leserin

Die WELT feierte in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag. Hier ein etwas anderer, sehr persönlicher Rückblick auf eine WELT-Epoche, die oft in ein schiefes Licht gerückt wurde. Auch von der WELT selbst.

Die WELT ist in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch. Ein stolzes Datum für eine Tageszeitung. Am 2. April 1946 wurde sie in Hamburg aus der Taufe gehoben – als erste überparteiliche Zeitung für die gesamte Britische Zone. Sie hat damit fast von Anbeginn an das Geschehen im Deutschland der Nachkriegszeit publizistisch begleitet.

Anlass zum Feiern, aber auch Anlass für einen Rückblick. Dieser wird dem Leser in einer gerade beendeten neunteiligen Serie von Thomas Schmid geboten, die Ulli Kulke neulich hier als „Opus magnum“ gelobt hat. Diese eigentlich löbliche Idee hat jedoch eine Schwäche: Sie wird aus einer einzigen Sichtweise heraus beschrieben und nicht von verschiedenen Autoren geschildert. Darunter leidet die Ausgewogenheit der Erinnerungen. Finde ich. Hier möchte ich einer unterbelichteten WELT-Epoche Reverenz erweisen.

Die Haltung der WELT war antitotalitär

Die WELT jener Zeit vertrat nachdrücklich einen Standpunkt, den ich noch heute für richtig halte: die Stimme zu erheben für Freiheit und Selbstbestimmung und gegen staatliche Willkür und Unterdrückung. Und zwar auch und gerade dann, wenn die eigenen Landsleute betroffen sind; und dabei das Unrecht klar als solches zu benennen, das mit der Teilung Deutschlands einherging; dem Vergessen dieses Unrechts entgegenzutreten und es nicht kleinzureden oder, wie es heute fälschlicherweise heißt, „zu relativieren“. Also genau das, was man im Rückblick auf das andere, das nationalsozialistische Unrecht unentwegt fordert.

Die WELT zeichnete sich einst dadurch aus, dass sie dem Totalitarismus generell eine klare Absage erteilte, anstatt, wie so viele andere, mit zweierlei Maß zu messen, gerade was die beiden deutschen Diktaturen betraf. Man kann nämlich nicht glaubwürdig „Nie wieder!“ rufen und gleichzeitig wegsehen, wenn erneut schweres Unrecht geschieht. Dieses Unrecht geschah vor unser aller Augen, niemand konnte sich damit herausreden, nicht gewusst zu haben, dass im anderen Teil Deutschlands den Menschen von der sowjetischen Besatzungsmacht ein verbrecherisches Regime aufgezwungenen worden war.

Auch wenn dort zweifellos Deutsche an der Spitze des Regimes saßen, die sich ebenso zweifellos schuldig machten, waren sie doch bis zuletzt abhängig von Moskaus Gnaden (@Achgut-Leser Helmut Kassner: mit Ihrem Hinweis haben Sie natürlich vollkommen recht). Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 konnte nur deshalb niedergeschlagen werden, weil Moskau Panzer gegen die Bevölkerung auffahren ließ. Das SED-Regime war jedenfalls damals schon am Ende, nicht nur wirtschaftlich, auch moralisch – und nicht erst 1989. In dem Moment, wo Gorbatschow aus wirtschaftspolitischer Bedrängnis seine schützende Hand über Honecker und Genossen wegzog, implodierte das Kunstgebilde namens „DDR“.

Die WELT hielt es für angebracht, anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens daran zu erinnern, sie habe in den 1960er Jahren ganz „nüchtern“ und „verhalten“ über den Mauerbau berichtet, es habe kaum „Einheitspathos“ gegeben. Dem Autor war wichtiger, Ingeborg Bachmann zu zitieren, die keine gute Meinung zu Berlin hatte, als das mit dem Mauerbau verbundene Leid zu betonen, das in überwältigender Mehrzahl Unschuldige traf.

Giftiger und galliger wurden die anderen

In dem Beitrag wurde – völlig korrekt – Axel Springer zitiert, dass er, sinngemäß, auch zwei deutsche Staaten akzeptieren würde, wenn nur die Deutschen zwischen Elbe und Oder frei sein könnten. „Aber“, so Manfred Schell in der GEISTIGEN WELT am 15. September 1990, und das hätte zur ganzen Wahrheit dazugehört, „natürlich sagte Springer dies um des Arguments willen – dieser eminent praktisch-politische Kopf war sich völlig klar darüber, daß die Freiheit der unterdrückten Deutschen nie anders als über die Wiedervereinigung in eine lebenswerte Praxis umgesetzt werden könnte; daß zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen jede Fortsetzung der von Unterdrückern künstlich herbeigeführten Teilung verbieten würde.“

Natürlich hatte Hans Zehrer ebenso recht, wenn er 1962 schrieb, „So wie die Dinge nun einmal liegen, ist es ebenso zwecklos, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, wie es sinnlos wäre, sich umzuwenden und davonzulaufen.“ Aber ich bezweifele stark, dass Zehrer damit einen Aufruf zur Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Mauer im Sinn hatte – oder gar, sich mit der Realität des geteilten Deutschlands abzufinden. Nein, die WELT hatte sich damit bis zuletzt niemals abgefunden. Und das machte sie einzigartig.

Die WELT scheute sich seinerzeit nie, deutliche Kritik an der Realität zu üben. Auch an der Sowjetunion und an den von ihr begangenen Verbrechen, egal ob sie an eigenen oder an fremden Bürgern verübt wurden. Dies galt jedoch spätestens seit dem Moment als mindestens unanständig, wo die „Entspannungspolitik“ zur Weisheit letzter Schluss erklärt wurde. In der WELT-Serie wird behauptet, dieses Blatt sei in dieser Zeit „giftiger und galliger“ geworden. Nein, giftiger und galliger, das wurden die anderen.

Über die Standhaften haben sie wahre Kübel an Gift und Galle, an Hass und Häme ausgeschüttet. Eine Kostprobe gefällig? Als geradezu beispielhaft kann eine Antwort der SPD auf die CDU-Aussage von 1988, dass die Wiedervereinigung „vordringlichste Aufgabe deutscher Politik bleibt“, gewertet werden: „Das ist objektiv und subjektiv Lüge, Heuchelei, die uns und andere vergiftet, politische Umweltverschmutzung.“

Das war eine Haltung, die etliche WELT-Journalisten völlig zu recht gegeißelt hatten. Denn wer, wenn nicht wir, die wir das Glück hatten, im freien Teil Deutschlands zu leben, hatte damals nicht nur die Möglichkeit, sondern schon allein die moralische Pflicht, unseren bedrängten Landsleuten östlich der Elbe beizustehen? Forderte nicht die Präambel des Grundgesetzes von 1949 uns ausdrücklich dazu auf, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ – und nicht, sie herunterzureden?

DIE WELT als Feindbild der Linken

Über dieses Kapitel des Versagens der westdeutschen „Intellektuellen“ wird nicht gerne gesprochen. Von Einsicht in eigene Fehler und Fehleinschätzungen, vom Stellen der eigenen Vergangenheit ist jedenfalls nur wenig zu spüren. Vor allem aber gestehen sie das Recht auf Irrtum oder gar Verblendung in jüngeren Jahren fast ausschließlich sich selbst und ihren Gesinnungsgenossen zu – dem politischen Gegner nur in Ausnahmefällen. Das merkt man an entsprechenden Sticheleien.

Zum Feindbild auserkoren wurde die WELT gerade von denen, die sich die zweite deutsche Diktatur schönredeten. Damit taten sie genau das, was sie anderen in Bezug auf die erste vorwarfen. Henryk M. Broder hat für diese partielle Blindheit dieser Leute einmal sehr deutliche Worte gefunden. Zum Tode des Schriftstellers Günter Grass, den man als durchaus würdigen Vertreter dieser Geisteshaltung bezeichnen kann, schrieb er in der BILD-Zeitung:

Der große ‚Warner und Visionär‘, die ‚moralische Instanz‘, die angeblich jenen ein Dorn im Auge war, die das Vergangene möglichst schnell vergessen machen wollten, hatte sein eigenes Gastspiel bei der Waffen-SS vergessen. Die deutsche Teilung war ihm die gerechte ‚Strafe für Auschwitz‘, die DDR kein Unrechtsstaat, sondern eine ‚kommode Diktatur‘. Er konnte so dröhnen, weil er ‚die Strafe für Auschwitz‘ nicht in der DDR, sondern in der kommoden Bundesrepublik absitzen konnte, deren Kulturbanausen solche Narreteien mit Applaus belohnten.

Bis heute wird gerne das Argument der „deutschen Schuld“ als Rechtfertigung für die Teilung verwendet. Aber mit welchem Recht will man beispielsweise Peter FechterMichael Gartenschläger (beide Jahrgang 1944), Bodo Strehlow (geboren 1957) oder Chris Gueffroy (geboren 1968) zu Schuldigen erklären?

Dies sind nur vier Namen von schätzungsweise 200.000 bis 300.000, die an Mauer und Stacheldraht schwer verletzt wurden, starben oder jahrelang in den Gefängnissen des SED-Regimes gequält wurden (siehe hier und hier). Ungezählten Menschen wurde durch den erlittenen Terror das Rückgrat gebrochen. Eine bittere Erfahrung, die dadurch verstärkt wird, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur auch nach der Wiedervereinigung in weiten Teilen in ihr Gegenteil verkehrt wurde.

Die Verfemten und Vergessenen

Nun steht es jedermann frei, die unter Kanzler Brandt begonnene „neue Ostpolitik“ mitsamt dem „Wandel durch Annäherung“, der in Wahrheit vor allem eine Anbiederung an die Machthaber in Moskau und Ost-Berlin darstellte, in höchsten Tönen zu loben und ihren Anhängern „Pragmatismus“ zu bescheinigen. Weniger schön ist es jedoch, Kritiker dieser Politik samt und sonders in die Unverbesserlich-Ewiggestrigen-Ecke, manchmal gar nach rechtsaußen abzudrängen und damit ihr Andenken zu beschädigen. Falsch ist dies vor allem deshalb, weil Jüngere auf diese Weise nur dieses eine Bild kennenlernen und es kaum überprüfen können.

Ich habe es immer als ein Privileg betrachtet, dass ich durch glückliche Umstände schon in meiner frühesten Jugend mit der WELT in Berührung kam. Sie bewahrte mich vor einer geschichtlichen Ahnungslosigkeit über die deutsche Nachkriegsgeschichte und insbesondere über die SED-Diktatur, eine Ahnungslosigkeit, welche längst nicht mehr nur für meine eigene Generation typisch ist. Eine übrigens bemerkenswert ehrliche und zugleich entlarvende Antwort auf die Frage, warum die Verbrechen der SED so gut wie nie Gegenstand im Schulunterricht sind, lieferte neulich das ZDF mit seiner Frage an die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke, ob eine Aufarbeitung der „DDR“ als Schulfach nicht in Konkurrenz zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus trete.

Die WELT weckte mein Interesse am verdrängten Thema, brachte mich dazu, es eigenständig zu vertiefen – genauer gesagt, ihre damaligen Journalisten. Deshalb fühle ich mich ihnen zu Dank verpflichtet. Neben Herbert Kremp habe ich Enno von Loewenstern mit einem eigenen Beitrag auf Achgut.com gewürdigt. Hier möchte ich an weitere Namen erinnern, die ich nicht vergessen habe.

Es geht um Autoren, die bei Thomas Schmid und Ulli Kulke als starrsinnige Ewiggestrige rüberkommen, die mit ihrem Beharren auf der Kritik an der Teilung Deutschlands, am Realsozialismus und mit ihren Warnungen vor einer Verharmlosung der Gefahren, die vom Kommunismus ausgehen, immergleiche Lieder der Vergeblichkeit gesungen hätten. Was liegt also näher, als dem Leser Gelegenheit zu geben, sich anhand von Zitaten selbst ein Urteil zu bilden?

Scheinidyll und Wirklichkeit

Zum Beispiel mit Worten von Günter Zehm. In seinem Leitartikel vom 12. August 1986 führte er aus: „Die Mauer ist nicht nur ein Denkmal der Inhumanität geworden, sondern auch eines der Ineffizienz, der Unmodernität, der Zurückgebliebenheit auf allen Gebieten des Lebens.“

Wer sich jemals zur Zeit des geteilten Berlins nicht nur westlich, sondern auch östlich von Mauer und Stacheldraht aufgehalten hatte, der weiß um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Einen sehr schönen Leitartikel über den Zerfall der Bausubstanz schrieb Dankwart Guratzsch am 15. Juni 1989 unter dem Titel „Die Schande von Greifswald“. Nicht eine Schande für die Menschen, nein, eine Schande für die SED, die das zu verantworten hatte. Tristes Grau, wohin das Auge auch blickte. Dazu das ständige Misstrauen durch den allgegenwärtigen Staatssicherheitsdienst, die Angst vor dem leichtfertigen Wort und falschen Zuhörer, die Angst, abgehört und verhört zu werden – sie lähmte unzählige Menschen, jahrzehntelang.

Darüber sahen die Salon-Sozialisten im Westen großzügig hinweg – auch jahrzehntelang. Im Grunde bis heute. Zehm, selbst Opfer der kommunistischen Diktatur, brachte die für viele Landsleute östlich der Elbe als ohnmächtig empfundene Situation zur Sprache, die von etlichen seiner Berufskollegen negiert wurde:

Und es ist zweifellos gerade das Fortbestehen der Mauer, das Dauerbewußtsein des Eingeschlossenseins, das sogar einstmals überzeugte Sozialisten in Resignation und Passivität treibt.“ Der von westlichen Schönfärbern wie Günter Gaus (unter anderem Spiegel) oder Theo Sommer (DIE ZEIT) gezeichneten Idylle setzte er die weit weniger idyllische Wirklichkeit entgegen, die zwischen dem Rückzug ins Private, der Gleichgültigkeit gegenüber der Gegenwart, dem Wechsel zwischen Hoffnungslosigkeit und dem Hoffen auf Ausreise in den Westen pendelte. Zehm nannte es einen „Wechselbalg aus Kalaschnikow und Filzpantoffel“.

Am Ende seines Artikels stellte er klar: „Man sollte darüber nicht vergessen, daß die Mauer keine genuin deutsche Erfindung war.“ Und: „Sie ist auch kein Ausfluß preußischen Perfektionswahns, wie einige schrieben, sondern artgemäßes Merkmal und Zubehör kommunistischer Wirtschafts- und Menschenführung.“ Treffender konnte man es nicht sagen.

„Geifernder Antikommunismus“

Ein anderes Beispiel. Am 30. August 1986 berichtete Dieter Dose aus Berlin über die tollkühne, geglückte Flucht dreier Menschen am Checkpoint Charlie mit einem Kieswagen frontal durch die Mauer. Sein Kollege Zehm widmete diesen Flüchtlingen einen Leitartikel: „Durch die Supersperren“. Dort lesen wir: „Potentielle Todesfahrten wie die des Berliner Kieslasters widerlegen schneidend die Mär von der angeblichen Normalisierung der Verhältnisse im geteilten Deutschland.“ Er kritisierte den damaligen Kanzlerkandidaten der SPD, Johannes Rau, der die Menschenrechte in Südafrika, aber nicht im anderen Teil Deutschlands aktuell bedroht sah (über die Mauer verlor er kein Wort) und dass der hessische Minister Josef „Joschka“ Fischer von den Grünen die Flüchtlinge allen Ernstes und „im Interesse des Friedens“ zurückschicken wollte. Zehm: „In der Tat, auch so kann man Getrenntes wiedervereinigen, nämlich den Gefangenen mit seinem Gefängnis.“ Bestimmt alles andere als realitätsfern konstatierte Zehm damals: „Den Wählern (und nicht nur den drei Millionen, die von drüben kamen) hebt sich der Magen.

Im gleichen Jahr scheiterte eine Flucht im November, sie endete im Kugelhagel an der Berliner Mauer. In seinem Kommentar schrieb Hans-Rüdiger Karutz am 25.11.1986: „Der Mord an dem jungen Mann, den NVA-Posten wie eine lebende Zielscheibe von der Mauerkrone schossen, zerstört endgültig eine gefährliche Illusion, die sich hüben wie drüben eingestellt hatte: Daß der Schießbefehl von der Ostberliner Führung aufgehoben worden sei.“ Er stellt richtiggehend klar: „Es wird nach wie vor erbarmungslos geschossen – mitten in Berlin. Wider die Abmachungen von Madrid. Und mitten hinein in die Wiener KSZE-Beratungen. Wie hohl klingt da der Satz des SED-Falken Hermann Axen vor dem Zentralkomitee: Miteinander reden ist zehnmal besser als aufeinander schießen.‘ “ Karutz weiter: „Das Wort des Bundeskanzlers vom menschenverachtenden System jenseits der Mauer erweist sich als Auskunft über einen Sachverhalt.

Als die SED Anfang 1989 Flüchtlingen in Bonns Vertretung die Ausreise verweigerte, schrieb Peter Philipps am 10. Januar: „Der Wunsch der Bevölkerung der DDRnach Freiheit, nach Reisemöglichkeiten, nach Menschenwürde – er läßt sich weder von Schüssen noch von Stasi-Aktivitäten aus der Welt schaffen. […] Für Freiheit gibt es keine Substitution, und solange Honecker und die Seinen den Deutschen östlich der Elbe dieses grundsätzliche Menschenrecht vorenthalten, den Drang nach Freiheit sogar mit dem Tod bedrohen, solange wird es in Europa keine Normalität geben.“

So schrieb die WELT damals. Was war falsch daran? Ja, es waren klare, unmissverständliche Worte, an denen sich vor allem die „Entspannungsfreunde“ störten. Ob aber solcherart Texte deshalb die Abwertung als Ausdruck „geifernden Antikommunismus“ verdient haben, nur weil er den Linken nicht in ihr Weltbild passte, überlasse ich dem Leser. Darüber urteilen können sie allerdings nur, wenn ihnen wenigstens einige beispielhafte Aussagen aus besagter Zeit vorliegen.

Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen gestärkt

Deshalb noch einmal kurz zurück zu Dieter Dose und Hans-Rüdiger Karutz. Sie berichteten damals für ihre Leser über die Situation der Menschen in Ostberlin und in der „DDR“; auch über die im Westen oft nicht zur Kenntnis genommene Hoffnungslosigkeit, die sich östlich der Elbe breitgemacht hatte. Dann kam das Jahr 1989. Dose und Karutz schrieben am 11. November einen besonders bewegenden Bericht über das unverhoffte Wiedersehen der Deutschen in Ost und West: „Man möchte alle, die kommen, in die Arme nehmen“. Ein Artikel über das Lachen und Weinen in jenen Tagen, in denen das deutsche Volk das „glücklichste der Welt“ gewesen sein soll. Kommentar-Überschrift der WELT damals: „Stolz sein auf euch“.

Werner Kahl berichtete ebenfalls über die oftmals verzweifelte Lage vieler Deutscher in der „DDR“, wie sie den Schikanen der SED ausgesetzt waren, vor allem die Ausreisewilligen. Und dass jene, die es in den Westen geschafft hatten, auf keinen Fall zurück wollten; gerade die jungen Menschen drüben fühlten sich erheblich eingeschränkt, nicht nur was ihre Berufsmöglichkeiten betraf (WELT vom 5.7.1988). Er nahm sich des dunklen Kapitels der Zwangsadoptionen durch die SED an, und damit auch der Schicksale von Gisela Mauritz und ihrem Sohn Alexander sowie von Jutta Gallus (heute Fleck) und ihren Töchtern Beate und Claudia. Glücklich ging am Ende nur die zweite Geschichte aus. Aber kurz bevor die beiden Schwestern doch zu ihrer Mutter in den Westen durften, wurde Claudia noch vom Abitur ausgeschlossen. Deutsche Schicksale. Vergessene Schicksale. Die WELT erzählte sie. Und stärkte so das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen, brachte sie mental über Mauer und Stacheldraht hinweg zusammen.

Carl Gustaf Ströhm wiederum war der Osteuropa-Experte der WELT schlechthin. Er verabscheute jegliche Anbiederung an die kommunistische Machthaber und hielt sein Ohr lieber am Volk. Einfühlsam berichtete er zusammen mit Werner Kalinka auch über die Lage im Sommer 1989. Nicht vergessen werden darf ebenso Wilfried Hertz-Eichenrode, der in seinem Leitartikel „Das Symbol Berlin“ am 18. März 1989 dem neuen rotgrünen Berliner Senat, der mit der Überlebensfähigkeit des freien Teils der Stadt zu spielen begann, ins Stammbuch schrieb: „Unsere alte Hauptstadt muß Symbol des Freiheitswillens in Deutschland, Europa und der Welt bleiben.“ Eine Aussage von kraftvoller Eleganz, der man dringend eine Neuauflage wünscht.

„Deutsche helfen Deutschen“

Die WELT hatte unseren bedrängten Landsleuten auch ganz praktisch geholfen. Am 10. September 1988 rief sie gemeinsam mit dem Deutschen Roten Kreuz die Aktion „Deutsche helfen Deutschen“ ins Leben, die vor allem den Aussiedlern aus der Sowjetunion half, aber auch Deutschen aus anderen Regionen Mittel-, Ost- und Südosteuropas, sowie – gerade im Jahr 1989 – Übersiedlern und Flüchtlingen aus dem anderen Teil Deutschlands. Gleichzeitig schilderte die Zeitung auf einfühlsame Weise das Schicksal verschiedener dieser Familien, die in die Bundesrepublik Deutschland gekommen waren. Bezeichnend war sowohl die Hilfsbereitschaft vieler WELT-Leser als auch die Dankbarkeit der Deutschen aus dem Osten. Die Redaktion veröffentlichte bewegende Briefe. Unter der Überschrift „Hilfe für die Flüchtlinge statt Neid: WELT-Leser spendeten 2,8 Millionen“ berichtete die WELT am 6. November 1989 über die große Resonanz auf diese Aktion, die auch von vielen Prominenten unterstützt worden war.

Mitgefühl mit Opfern der SED-Diktatur

Fazit: Die WELT und ihre Redakteure waren zusammen mit Gerhard Löwenthal, mit seinen „Hilferufen von drüben“ und seinem „ZDF-Magazin“ (siehe auch hier) ein Stachel im Fleisch der sozialistischen Schönfärber im Westen des geteilten Deutschlands. Spätestens ab den 1970er Jahren gab es nicht mehr viele, die deutliche Worte über die Brutalität der SED-Diktatur verloren. Zunehmend gehörte Mut dazu, sich nicht nur gegen dieses Unrecht zu stemmen, sondern sich auch zum Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zu bekennen. Die Geschichte gab ihnen auf eine Weise recht, wie es nur selten geschieht. Das zählt, nicht wie viele ihr unangepasstes Schreiben zu besagter Zeit nicht en vogue fanden.

All diese Journalisten, von denen die hier namentlich genannten nur stellvertretend für viele weitere stehen können, die eigens zu nennen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, hätten deshalb für ihr Wirken Anerkennung und Dank von ihrem einstigen Arbeitgeber verdient gehabt. Denn bei aller gebotenen Sachlichkeit und journalistischen Distanz merkte man ihnen stets ihr Mitgefühl mit den Deutschen „drüben“ und mit den Opfern der SED-Diktatur an. Auch erschütternde Schicksale deutscher Heimatvertriebener blendete die WELT (und WamS) nicht aus. Dazu gesellte sich ihr unbedingtes Eintreten für die Einheit der deutschen Nation, über alle Anwürfe hinweg, die oft genug unterhalb jeder Gürtellinie lagen. Das hat mich geprägt, ihre Standfestigkeit hat mir imponiert, und das werde ich ihnen nicht vergessen.

Sabine Drewes fing etwa im 13. Lebensjahr an, aus Neugier und Interesse die WELT zu lesen. Zu der Zeit waren Berlin und Deutschland noch geteilt, war Europa in Deutschland geteilt. Auf deutsche Fragen erhielt sie im Schulunterricht keine Antworten. So fing sie irgendwann an, ausgewählte WELT-Artikel zum Thema zu sammeln. Aus diesem reichhaltigen Fundus schöpft sie auch für Achgut.com.

 

Quelle: Achgut