„Frei wie ein Jude“

Die neuen Memoiren der Literaturwissenschaftlerin Ruth R. Wisse „Free as a Jew: A Personal Memoir of National Self-Liberation“ sind scharfsinnig, gut geprüft und dringender denn je als Lektüre zu empfehlen.

Die neuen Memoiren von Ruth R. Wisse sind scharfsinnig, gut geprüft und dringender denn je als Lektüre zu empfehlen.

Wie der Dichter John Masefield leide auch ich am „Seefieber“, und so fuhr ich „wieder auf das Meer, auf das einsame Meer und den Himmel“. Ich brauchte kein „großes Schiff“, sondern nur ein Zimmer am Strand mit einer Terrasse – und alle Zeit der Welt, um Ruth R. Wisses neues Buch zu lesen: Free as a Jew: A Personal Memoir of National Self-Liberation.

Ich konnte es nicht aus der Hand legen. Trotzdem habe ich es langsam gelesen, um es auszukosten und alles in mich aufzunehmen. Ich muss mindestens ein Viertel des Buches unterstrichen haben. Wisse beherrscht die jüdische Geschichte aus der Vogelperspektive und bringt sie mit der israelischen Politik und der Dämonisierung des einzigen jüdischen Staates in Verbindung. Sie warnt weiter vor der Plage der „politischen Korrektheit“, die das gesamte Gebilde des Westens zu verschlingen droht.

„Free as a Jew“ ist eine „intellektuelle Denkschrift“, aber es ist auch eine Familiengeschichte voller charmanter Fotos; eine Geschichte der europäischen Juden vor, während und nach dem Holocaust; und eine warmherzige Einführung in die jiddische Literatur und viele der bedeutenden jiddischen Schriftsteller, die Wisse und ihre Eltern in Montreal, wo sie nach ihrer Flucht aus Rumänien lebten, kannten, beherbergten und unterstützten. Wisse macht uns mit vielen dieser Schriftsteller bekannt: Schalom Asch, Scholem Alejchem, Itzik Manger, Mendele Mokher Sforim, Abraham Sutzkever und Chaim Grade, aber auch Isaac Bashevis Singer, Saul Bellow, Leonard Cohen, Hillel Halkin, Jehuda Amichai, Irving Howe und Norman Podhoretz.

Jiddisch war nicht dazu gedacht, politisiert zu werden

Für Wisse ist Jiddisch kein Unterfangen der „sozialer Gerechtigkeit“ und nicht etwa hauptsächlich mit „Progressivismus“ in Verbindung zu bringen. Es ist vielmehr eine reiche Sprache, „die mit den eigentlichen jiddischsprachigen Gemeinden verbunden ist, die das geblieben sind, was sie immer waren: Vorposten des jüdischen Separatismus, die hauptsächlich aus folgsam religiösen Juden bestanden, die kulturell getrennt von der Bevölkerung um sie herum lebten“. Jiddisch – die Sprache, die Kultur, die Werke – war nicht dazu gedacht, politisiert zu werden.

„Free as a Jew“ ist auch eine Geschichte über Ruths Liebe zu Israel und über die Juden in Montreal (erzählt aus dem Blickwinkel ihrer langen Karriere an der McGill University und im Verlagswesen, lange bevor sie eine Stelle in Harvard annahm).

Aber in erster Linie ist das Buch eine Ideengeschichte und eine Geschichte über das Gesetz der unbeabsichtigten intellektuellen Konsequenzen. Wisse stellt heute die durch sie erfolgte Begründung der „Jewish Studies“ in Frage, so wie ich die durch mich erfolgte Begründung der „Womens‘ Studies“ in Frage gestellt habe, weil alle identitätsbasierten akademischen Studien zu einer Waffe im Krieg gegen die westliche Zivilisation geworden sind, was immer auch einen Krieg gegen Amerika und Israel bedeutet.

Ich bin keine Linke, die plötzlich von der Realität überfallen wurde

Dabei könnten die geschätzte Autorin und ich auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein. Sie ist die Tochter von Privilegierten, mit Großeltern, die einen jiddischen Verlag in Wilna gründeten, und Eltern, die literarische und politische Salons führten. Ich bin eher eine „Tochter der Erde“.

Meine Großeltern mütterlicherseits, bei denen wir lebten, sprachen zwar nur Jiddisch, aber es war die Sprache der Geheimnisse der Erwachsenen, und ich wurde nicht ermutigt, sie zu verstehen. Ruth blieb für den Rest ihres Lebens im sicheren und liebevollen Schoß ihrer unmittelbaren und erweiterten Familienkreise; ich floh aus meinem, sobald ich konnte. Ihre Familie war nicht besonders religiös, meine schon.

Wisse war, vielleicht paradoxerweise, immer stolz darauf, eine traditionelle Ehefrau und Mutter zu sein, jemand, der nicht verstehen konnte, warum Frauen Männer nicht als ihre geliebten Beschützer ansehen. Sie fühlte sich wohl – als einzige Frau in einer Gruppe mächtiger Männer der Literatur, vielleicht war ihr das sogar lieber, und mit einigen Ausnahmen (sie unterstützte das Abtreibungsrecht und die „Entkriminalisierung der Homosexualität“) lehnte sie die feministische Bewegung entschieden ab.

Ich für meinen Teil bin aktenkundig eine glühende Feministin und rebellische Aktivistin – früher eine linke, und heute immer noch eine radikale Feministin, die beim Thema Gewalt gegen Frauen Pionierarbeit leistete und dokumentierte, wie Frauen aller Rassen, Klassen, Ethnien und Religionen gerade als Frauen besonders gefährdet und diskriminiert werden.

Ich war auch immer Zionistin. Mir ist klar, dass der Zionismus die Befreiungsbewegung des am meisten verleumdeten und verfolgten Volkes der Erde war und immer noch ist, und dass Antizionismus gleichbedeutend mit Rassismus und Judenhass ist. Ich habe das schon vor langer Zeit „begriffen“ – ich gehöre nicht zu den Linken, die plötzlich von der Realität überfallen wurden. Aber ich habe mich nicht damit beschäftigt oder mich auf das Judentum oder Israel spezialisiert, selbst als ich jahrzehntelang originär feministische Werke veröffentlichte, lehrte und organisierte.

Als „neokonservativ“ gebrandmarkt

Ich erwähne dies alles, weil Wisse und ich im 21. Jahrhundert in so vielen wichtigen Dingen übereinstimmen. Ich wünschte, ich hätte ihre früheren Bücher schon viel früher gelesen – sie hätten mir enorm geholfen. Da ich das nicht getan habe, konnte ich mich nicht auf ihre großen Schultern stützen und musste einige Räder für mich selbst neu erfinden. Ich denke dabei insbesondere an ihr 1992 erschienenes Werk If I Am Not for Myself … The Liberal Betrayal of the Jews, in dem sie analysiert, wie der Linksliberalismus illiberal und intolerant wurde und wie seine Anhänger blind und leidenschaftlich der arabischen, sowjetischen und palästinensischen Umsturzpropaganda gegen den jüdischen Staat zustimmten. Plötzlich waren die Palästinenser die verletzte und verletzliche Partei, die Opfer des jüdischen Kolonialismus und Imperialismus. Diese Sichtweise hat sich verfestigt und verschlimmert und ist heute möglicherweise jenseits jedes rationalen Dialogs.

Weil sie 1992 darauf hinwies, wurde Wisse auf den Seiten der New York Times und der Washington Post angegriffen und als „neokonservativ“ gebrandmarkt, was damals gleichbedeutend mit dem Vorwurf des Rassismus, Faschismus und Nazismus war. Ihre Ansichten wurden nur auf den Seiten von Commentary, ihrer politisch-intellektuellen „Heimat“, verteidigt. Und doch lag Wisse zu dieser Zeit nicht nur richtig. Sie war prophetisch.

Wisse geht auch hart mit der unangebrachten und gefährlichen Verehrung toter Juden ins Gericht. „Die Idee, dass jüdisches Leiden als erlösend erscheinen könnte, basiert wahrscheinlich eher auf christlichen als auf jüdischen Lehren.“ Sie bedauert das so genannte „Shoah-Business“, das „die Juden unauslöschlich als Zielscheibe markiert und zur Nachahmung einlädt“. Sie verweigert die Fokussierung auf die jüdische Opferrolle, statt auf „unsere Wiedererlangung der jüdischen Souveränität im Land Israel … die größte Comeback-Geschichte aller Zeiten“.

Hier werden Wisse und ich Schwestern im Geiste – hier und in Bezug auf unsere Ansichten über die systematische Zerstörung der westlichen Hochschulen im Namen des „Fortschritts“. Hier würde ich auch die Zerstörung des radikalen Feminismus hinzufügen, die Auslöschung des Geschlechts zugunsten der Geschlechtsidentität, die Konzentration auf die Transgender-Politik und deren schwindelerregenden Aufstieg, die nur noch von dem erschreckenden Aufstieg der antizionistischen Politik übertroffen wird. Klassische Linke und radikale Feministinnen haben beide die Hochschulen verloren. In meiner Zeit habe ich erlebt, wie Generationen von linken Feministinnen mehr von der angeblichen Besetzung Palästinas besessen waren als von der tatsächlichen Besetzung der Körper und Köpfe von Frauen weltweit, einschließlich in Gaza und den umstrittenen Gebieten. Die plappernde Klasse glaubt nun, dass Palästina das wichtigste und am meisten geschädigte Land der Welt ist, und die Infragestellung ihres mächtigen Kults – der auf der hartnäckigen Ablehnung objektiver Fakten beruht – führt zu schweren Strafen.

„Zwangstyrannei der Linken“

Ich teile auch die Empörung von Wisse und ihre Verachtung für den Aufstieg des Postkolonialismus. Sie schreibt:

„Nach dem Fall der Sowjetunion im Jahr 1989 löste der Postkolonialismus den Kommunismus als theoretischen Rahmen der Wahl für die akademische Linke ab, und die Palästinenser wurden als Paradebeispiele für die ‚Subalternen‘, die Unterdrückten, angepriesen. Diese postmodernen Begriffe verdeckten ihre radikalen Absichten und verliehen ihrem Krieg gegen die Zivilisation einen Hauch von Mystik und Autorität, den die Universität zu vermitteln vorgab.“

Nachdem Martin Peretz zum ersten Mal einen Lehrstuhl für jiddische Literatur gestiftet hatte, wurde Wisse 1993 nach Harvard berufen. Ihre Beschreibung dessen, was hinter den Kulissen geschah, ist ein fesselndes Must Read – und ein Grund für große Verzweiflung. Sie schildert den „akademischen Niedergang“ einer einstmals führenden Institution und stellt fest, dass nun eine „Zwangstyrannei der Linken“ vorherrscht, eine Stimmung, in der jeder „aus Angst vor der Zensur durch andere über seine Schulter schaut“. Natürlich ist die israelfeindliche Politik Teil des aufziehenden Sturms der „Cancel Culture“.

Wisse erzählt Geschichten aus dem Nähkästchen und nennt Namen: Cornel West, Larry Summers, J. Lorand Matory, Leonard Jeffries, Henry Louis „Skip“ Gates Jr., Diana L. Eck, und so weiter. Sie schreibt darüber, wie Harvard-Präsident Lawrence Summers, ein Jude, fälschlicherweise des Sexismus beschuldigt wurde, was seinen Rücktritt zur Folge hatte, der ihrer Meinung nach „einen Point of no return“ markierte. Danach wurde jede rationale und objektive Verteidigung Israels sofort angegriffen und als „Hassrede“ niedergeschrien, während irrationaler und gefährlicher Judenhass als „freie Rede“ geschützt wurde.

Juden als „befreite Sklaven“

Wisse erinnert uns daran, dass „Hitlers Männer nicht aus der Gosse, sondern aus der Universität stammten“. Ihre Harvard-Kollegen, „ansonsten anständige Leute“, hatten noch „Spaß daran, die Rollen von antijüdischen Aggressoren und ihren jüdischen Zielen zu vertauschen. Es war ein intellektueller Sport wie kein anderer“. Der Kampf gegen diese kognitiven Umkehrungen und die pausenlose Propaganda in den Medien, in Lehrbüchern und im Internet war entmutigend, ermüdend, schwächend, entrüstend und vielleicht erfolglos.

Ruth ist schon viel länger dabei als ich – ich leiste erst seit 21 Jahren Widerstand gegen den kognitiven Krieg gegen die Juden – und ich bin bereits erschöpft, wütend und sogar ein wenig gelangweilt. Wirklich, wie oft kann man die großen Lügen zu Boden ringen, um sie dann wieder auftauchen zu sehen? Aber ich werde diesen Kampf auf keinen Fall aufgeben, nicht solange ich lebe und atme.

Wisse bringt mehrere andere überzeugende Argumente vor, insbesondere ein durchdachtes Plädoyer gegen positive Diskriminierung (Affirmative Action). Sie ist gegen „group preferences“, das heißt Quoten. „Eine öffentliche Politik der umgekehrten Bevorzugung aufgrund von Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit könnte die Unsicherheiten und Ungleichheiten, die man zu überwinden versucht, nur noch vertiefen.“

Sie beruft sich auf ein Modell der Juden als „befreite Sklaven, die die disziplinierenden Gesetze des Sinai brauchten, um sich von einem Pöbel in ein selbstverantwortliches Volk zu verwandeln. Ich hatte das Gefühl, dass eine herablassende Haltung gegenüber den Benachteiligten eher Verachtung als gegenseitiges Vertrauen bedeutete“.

Wenig Verständnis für das allgemeine weibliche Leid

Sie weist darauf hin, dass „Vielfalt“ sich nicht nur auf eine Hautfarbe oder ein Geschlecht beziehen sollte, sondern „eine Vielfalt von Ideen“ sein sollte und nicht zu „politisch-intellektueller Konformität“ führen sollte. Ja, einverstanden, aber die ganze Angelegenheit ist viel komplizierter und quälender, als sie zugibt.

Wisse ist stolz auf ihre Hartnäckigkeit, aber noch stolzer auf ihr Geschlecht. Sie glaubt, dass Mädchen und Frauen ein einfacheres Leben haben als Männer. Ich habe über diesen blinden Fleck gerätselt, bis mir klar wurde, dass sie vielen europäischen Frauen einer bestimmten Klasse und Generation sehr ähnlich ist. Ich denke dabei an Hannah Arendt, Edith Kurzweil, Alma Mahler, Maria Altmann, geborene Bloch-Bauer, die Figur, auf der Woman in Gold basiert. Sie alle sind aggressiv heterosexuell, stolz darauf, Männerjunkies zu sein. In dieser Hinsicht sind sie wirklich naiv und haben wenig Verständnis für das allgemeine weibliche Leid, eine Realität, die so weit von ihrem privilegierten Leben entfernt ist.

Im Laufe des Buches beginnt Wisse langsam, naiv und widerwillig, ihr Geschlecht als einen Faktor für ungerechte Beschäftigungspraktiken und Einstellungen zu betrachten. (Sie stellt fest, dass sie weniger verdient als ihre männlichen Kollegen.) In einem anderen Moment fragt sie sich, ob „mein Geschlecht eine Rolle bei (Irving Howes) Herablassung“ (mir gegenüber) spielte? Schließlich fragt sie sich, ob sie gerade deshalb in Harvard eingestellt wurde, weil sie eine Frau ist. Sie findet diese Möglichkeit ironisch.

Ihre Haltung zu weiblichen Rabbinern ähnelt der des Rabbiners David Weiss Halivni, der sich vom Jüdischen Theologischen Seminar wegen dessen Entscheidung, Frauen als Rabbiner zu ordinieren, getrennt hat. In seinem Buch The Book and the Sword: A Life of Learning in the Shadow of Destruction schrieb Halivni, dass Frauen als Rabbinerinnen ordiniert werden sollten, aber nur, wenn ihre Mütter bereits Talmudgelehrte waren und so weiter. Streng, ja, aber zumindest ist es ein Standpunkt, der die Erhabenheit der jüdischen Gelehrsamkeit bewahren, nicht zerstören, nicht verwässern will; ein Standpunkt, der Rabbiner in erster Linie als Gelehrte verehrt, nicht als Geldbeschaffer oder politische Aktivisten.

Wisse fragt: „Ist eine Kohorte von Talmudistinnen aufgestiegen, um mit ihren Lehrern zu konkurrieren oder sie in der Beherrschung der Quellen zu übertreffen? Hat eine wachsende Zahl von Synagogenmitgliedern die Andacht und Hingabe bei konservativen Frauen so sehr verstärkt, dass eine solche traditionsverachtende Innovation erforderlich war?“

Halivni gründete eine halachische, modern-orthodoxe Gemeinde an der Upper West Side von Manhattan, Kehilat Orach Eliezer, in der er Frauen nur begrenzte Aufgaben zugestand. Ich fand es bemerkenswert, dass die Gemeinde, die Halivni selbst gründete, eine gelehrte Frau, Dina Najman, zu ihrer Leiterin machte. Sie wurde ihre Rosch Kehilla und Mara d’Atra genannt, ihre halachische Entscheidungsträgerin. Ich habe Dina einmal sprechen hören. Ich stupste meine Begleiterin, meine Chevrutah, Rivka Haut, an und flüsterte: „Sie ist eine Rabbinerin, eine Talmudistin, so wie sie mit wenigen Worten auf den Punkt kommt.“

Ruth ist genauso. Ihr Buch ist ein Geschenk, und es ist ein Vermächtnis, nicht nur für sie, sondern für uns alle.

Obwohl wir keine Freunde sind, habe ich Ruth Wisse getroffen. Das erste Mal um die Jahre 2003, 2004 herum, auf einer Konferenz über Antisemitismus in Montreal. Wir saßen beide auf einem Podium, und als ich meinen Vortrag beendet hatte, sagte sie: „Wo warst du denn all die Jahre?“

Hineni, Ruth, hineni. (Hier bin ich, Ruth, hier bin ich.)

 

Quelle: Achgut